Problematische Jugendliche brauchen auch Unterstützung durch die akademische Welt. An der Fakultät für Bildungswissenschaften in Brixen nimmt der Pädagogikprofessor Nicola Lupoli diese Aufgabe besonders ernst.

Herr Professor Lupoli, Sie haben erst unlängst Kapazitäten aus verschiedensten Disziplinen nach Brixen geholt – für eine Tagung zum Umgang mit bzw. der Resozialisierung von verhaltensauffälligen und kriminellen Jugendlichen. Was hat Sie dazu veranlasst, diesen Austausch anzustoßen?
Mir ging es vor allem darum, mit dieser Tagung eine Möglichkeit der Konfrontation und Fortbildung für Sozialarbeiter, Pädagogen, aber auch Lehrer und Psychologen zu diesem Thema zu schaffen. Mir selbst sind Randgruppen – ob in sozialer, wirtschaftlicher oder kultureller Hinsicht – bereits seit meiner Studienzeit in Neapel ein besonderes Anliegen. Damals habe ich mich zum Beispiel mit dem Phänomen des Schulabbruchs und generell des Schulversagens auseinandergesetzt, das wiederum einen Nährboden für Kinderarbeit und Mikrokriminalität darstellt.

Und in Brixen ist dieses Interesse nicht erloschen?
Keineswegs. Die unterschiedlichen Kulturen in Südtirol haben mich schon bald nach meiner Berufung im Jahr 2006 dazu inspiriert, mich – unter anderem in Franzensfeste und Brixen – in der interkulturellen Forschung zu engagieren. Letzthin habe ich mich vor allem mit der Reform des Bildungssystems auseinandergesetzt. Denn auch eine schlechte Schule kann zur Exklusion und zu Verhaltensauffälligkeiten von Jugendlichen führen. Und solange in unserem Bildungssystem ein Managementansatz vorherrscht, gibt es zu wenig Raum, um die Aufmerksamkeit auf die Betreuung und individuelle Entwicklung des Menschen zu legen.

Ob Verhaltensauffälligkeiten oder Kriminalität – was sind die häufigsten Gründe dafür und was bräuchten Jugendliche, um aus solchen negativen Mustern herauszukommen?
In der Psychologie und der Soziologie finden wir für diese Phänomene verschiedene Erklärungsansätze: von Orientierungslosigkeit, Gettoisierung und emotionalen Defiziten über wirtschaftliche Krisen oder einen Werteverfall bis hin zu Kriegen. Eines der wichtigsten unbefriedigten Bedürfnisse der Jugend in Europa ist aber das Thema Arbeit. Vor allem im Mittelmeerraum sehen sich viele junge Menschen heute mit sehr eingeschränkten Entwicklungsmöglichkeiten konfrontiert: prekäre Arbeitsverhältnisse, niedere Löhne, unzureichende Sozialleistungen. Italien ist in diesem Bereich Schlusslicht in Europa, und Süditalien wieder das Schlusslicht des Landes.

Eine Jugendarbeitslosigkeit von rund 56 Prozent, wie sie derzeit in Süditalien verzeichnet wird, trägt dazu bei, dass junge Menschen an den Rand unserer Gesellschaft gedrängt und dabei möglicherweise auch kriminell werden?
Wir haben zu viele Jugendliche, die in den sozialen und kulturellen Ghettos einer heruntergekommenen Peripherie leben, unfähig, ein selbstständiges Leben zu führen, sich zu verwirklichen und ein Leben aufzubauen. Und ja, für diese jungen Menschen gibt es viele Risiken, sich zu verlieren – in den Abgründen von Internet, Alkohol oder Drogen, und auf der Suche nach Wegen, um die Bedürfnisse einer Konsumgesellschaft dennoch zu befriedigen.

Spiegelt sich diese auch in den Statistiken wider?
Die Statistiken zur Jugendkriminalität geben in ganz Italien Anlass zur Sorge. 2017 wurden fast 60.000 Straftaten von Minderjährigen verübt und die Anzahl der Straftaten stieg um 35%. Bei den Sozialdiensten wurde gar ein Zuwachs von mehr als 40 Prozent an anvertrauten Jugendlichen verzeichnet. Vor allem im Süden beobachten wir zuletzt auch eine zunehmende Annäherung der Jugendkriminalität an die organisierte Kriminalität: Jugendliche werden von der Mafia als Handlanger bei Überfällen eingesetzt, oft auch mit Schusswaffen.

Nicola Lupoli, Professor an der Fakultät für Bildungswissenschaften.

Ist Südtirol auch hier eine  Ausnahme?
In jedem Fall liegt die Zahl der Straftaten hier deutlich unter dem nationalen Durchschnitt. Man muss auch sagen, dass es in Südtirol sehr viele Initiativen gibt, um vorbeugend zu arbeiten sowie Jugendliche in Schwierigkeiten möglichst gut abzufangen. Es werden auch viele Studien und Tagungen zu diesem Thema gemacht – und natürlich haben wir auch die beiden Laureatsstudiengänge für Sozialarbeit und Sozialpädagogik sowie einen Masterlehrgang an der Fakultät für Bildungswissenschaften.

Was konkret kann die akademische Welt tun, um Jugendliche mit Problemen besser zu unterstützen?
Die Universität hat die Aufgabe auf mehreren Ebenen aktiv tätig zu sein: mit wissenschaftlicher Unterstützung bei Studien und Untersuchungen zu den Ursachen des Phänomens und zum besseren Verständnis seiner unterschiedlichen Ausprägungen, durch die Überprüfung der Wirksamkeit von gesetzlichen, sozialen und erzieherischen Antworten auf Jugendkriminalität. Es braucht Datenbanken und einen regelmäßigen Austausch zu Best Practices, genauso wie mehr Kompetenzzentren und bessere Weiterbildungen für alle jene, die mit straffälligen Jugendlichen zu tun haben.

Und in diese Richtung wurde auch bei der Tagung in Brixen gearbeitet, bei der Erfolgsmodelle aus Italien und Spanien vorgestellt wurden?
Ja, wir haben das Thema wirklich aus einer 360-Grad-Perspektive beleuchtet – mit Vertretern des Justizministeriums und von Betreuungsstrukturen für Minderjährige, mit Psychologen, Psychiatern, Soziologen, Juristen und Pädagogen. Angesichts der Vielschichtigkeit der Diskussion haben die Teilnehmer vereinbart, den Austausch auch über die Tagung hinaus fortzuführen – und mittelfristig ein interdisziplinäres Dokument zu erarbeiten, in dem nationalen und europäischen Entscheidungsträgern konkrete Vorschläge für den kulturellen und juristischen Umgang mit dem Phänomen Jugendkriminalität gemacht werden soll.

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