Forscher testen Technologien für ein unabhängiges Leben im Alter

Wenn Senioren möglichst lange in der eigenen Wohnung leben, ist das gut für sie und für die Sozialsysteme. In einem Feldversuch testen Forscherinnen von Eurac Research technologische Lösungen, die dabei helfen sollen.

Die Zukunft Europas sieht ziemlich alt aus. Außer im unwahrscheinlichen Fall steil steigender Geburtenraten, wird im Jahr 2070 mehr als die Hälfte der Bevölkerung über 65 sein. Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt heute schon bei 81. Das ist natürlich in vielerlei Hinsicht ein Triumph, Ergebnis des medizinischen Fortschritts und verbesserter Lebensumstände. Andererseits bedeutet es eine dunkle Wolke am Horizont: Wie groß wird der Betreuungsbedarf? Wie teuer? Düstere Prognosen werden entworfen. Optimisten jedoch haben ein gutes Argument: Die Zukunft, in der wir alle immer älter werden, beschert uns gleichzeitig wahre Wunder technologischer Unterstützung. Es gilt nur, die Möglichkeiten auch richtig zu nutzen.

„Lösungen müssen auf die tatsächlichen Bedürfnisse der Menschen zugeschnitten sein. Was bringt ihnen wirklich etwas, trägt bei zu Sicherheit, Autonomie, Wohlbefinden?“ Marcelle van der Sanden ist Forscherin am Institut für Public Management von Eurac Research, das sich mit genau dieser Frage schon in mehreren Projekten befasst hat. Gerade läuft in Südtirol ein Feldversuch, bei dem (meist alleinlebende) ältere Menschen in ihrem Haushalt ein Jahr lang ein technologisches Lösungsbündel aus Sensoren, einem Tablet und einer Notfalluhr testen. Diese Geräte „kommunizieren miteinander“, erklärt van der Sanden, und erklärt das mit einem Beispiel: „Nehmen wir an, eine Dame frühstückt immer zwischen sieben und acht; wurde um neun die Kühlschranktür noch nicht geöffnet, schickt ein dort angebrachter Sensor eine Nachricht an ihr Tablet: Ist alles in Ordnung? Antwortet sie nicht innerhalb von 20 Minuten nicht, geht eine Nachricht an einen Angehörigen, der dann anrufen oder nachsehen kann.“ Das ist nur eines von zahlreichen Szenarien. Das Tablet erinnert zum Beispiel auch an Termine, und die Sensoren lassen ein Licht angehen, wenn jemand nachts aufsteht, oder melden, wenn ein Topf auf dem heißen Herd vergessen wurde; über die Notrufuhr kann bei einem Sturz schnell Hilfe gerufen werden. „Generell stimmen wir das System so gut es geht auf den Tagesablauf und die Ansprüche des Einzelnen ab“, sagt von der Sanden. Das Technologiebündel, so scheint es, wenn man ihr eine Weile zuhört, funktioniert einerseits wie ein beruhigendes Geländer, hilft über die vielen Stolpersteine des Alltags hinweg, andererseits bedeutet es ein Sicherheitsnetz, das einen im Notfall auffängt.

Bei dem Feldversuch in Südtirol machen bisher 57 Menschen mit, der jüngste 66, die älteste 96. Insgesamt hat das Projekt jedoch noch viel mehr Probanden, neben Eurac Research sind Partner aus Slowenien, Österreich und den Niederlanden beteiligt. Gefördert wird das Forschungsvorhaben durch das italienische Ministerium für Bildung, Universität und Forschung und durch das europäische AAL (Active Assisted Living) Programm: Darüber finanziert die EU Innovationen, die uns, in den aufmunternden Worten der offiziellen Website, „ im Alter in Kontakt, gesund, aktiv und glücklich halten.“ Dabei geht es natürlich zum einen darum, dass wir uns am „größten Geschenk in der Geschichte der Menschheit“, wie der amerikanische Altersforscher Joseph Coughlin die im Lauf eines Jahrhunderts gewonnenen 30 Lebensjahre nannte, so intensiv erfreuen wie möglich; aber es geht auch darum, dass das Geschenk für die Sozialsysteme nicht unbezahlbar wird. Denn jeder ältere Mensch, der in seiner Wohnung voller Erinnerungen, in seinem Viertel voller bekannter Gesichter weiterhin selbstbestimmt seinen Alltag gestalten kann, ist ein Bewohner weniger im Pflege- oder Altersheim. Im schottischen Bezirk West Lothian gelang es, mit Hilfe von Sensoren in Seniorenwohnungen und einem Notrufsystem die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Pflegeheimen des Bezirks um mehr als zwei Drittel zu senken. Und dann ist da noch ein weiterer Aspekt von potenziell großer wirtschaftlicher Bedeutung: Auf Entwicklungen, die das Leben älterer Menschen leichter, sicherer, selbstbestimmter oder gesünder machen können, wartet ein wachsender Markt.

Experten bemängelten dabei in der Vergangenheit manchmal, der Nutzen entwickelter Produkte sei nicht immer hinreichend erwiesen. Deshalb sind Feldversuche wie der aktuelle in Südtirol – unter Alltagsbedingungen und über einen längeren Zeitraum hinweg – so wichtig. Sie schaffen Evidenz: Was hilft wirklich? Um das herauszufinden, bedienen die Forscher sich einer Methode, die eigentlich aus der Medizin kommt: des „Randomized Controlled Trial“. Bei so einer „kontrollierten Zufallsstudie“ werden die Studienteilnehmer in zwei Gruppen aufgeteilt: Nur eine erhält die Geräte. Wer, das bestimmt das Los eines Computerprogramms. Im Lauf der Studie werden dann beide Gruppen mehrmals detailliert befragt, zudem geben die Log-Daten der installierten Geräte Auskunft über die tatsächliche Nutzung.

Wenn van der Sanden die Geräte installiert, bemerkt sie bei den Menschen manchmal „eine große Angst, etwas kaputtzumachen oder Fehlalarme auszulösen. Da ist schon Scheu vor der neuen Technologie. Wir üben deshalb alles in Ruhe gemeinsam ein. Die Geräte sollen ja helfen, nicht zusätzlichen Stress bereiten!“ Sie hat Gesundheitswissenschaften studiert, aber bei diesem Projekt „ist man gleichzeitig auch ein bisschen Techniker und Psychologe.“ Sie lacht. Man kann sich kaum jemanden vorstellen, der besser geeignet wäre, angespannten Erstnutzern die Berührungsängste zu nehmen als diese unkomplizierte, strahlende Holländerin. Die Forscherinnen – neben van der Sanden sind zwei Kolleginnen beteiligt – intervenieren nicht bei der Nutzung, registrieren nur: Wie oft wurde das Tablet verwendet? War die Notrufuhr an allen Tagen aufgeladen?

An der Entwicklung dieser Uhr, ebenfalls im Rahmen des AAL-Programms, waren Forscher des Instituts für Public Management und der Universität Innsbruck beteiligt. Das Gerät mit dem Namen 2PCS wird in Alters- und Pflegeheimen in Österreich und Deutschland schon eingesetzt und ist ein gutes Beispiel dafür, wie Technologie älteren Menschen zu mehr Freiheit verhelfen kann, ohne ihre Sicherheit zu vermindern. Unter anderem lässt sich zum Beispiel ein Umkreis definieren, innerhalb dessen sich der Träger – nehmen wir an, er leidet an Demenz – nach Belieben bewegen kann, etwa im Garten des Altersheims. Überschreitet er die Grenze, werden die Pfleger benachrichtigt und können den Bewohner lokalisieren. Ähnlich sichere Alternativen wären nur: Der Bewohner bleibt im Haus, oder verlässt es ausschließlich in Begleitung.

Das Design solcher Produkte muss Schwächen einkalkulieren, die die meisten Designer nur vom Hörensagen kennen – zitternde Hände, gefühllose Finger, vermindertes Gleichgewicht. GERT kann den Entwicklern aus ihrer Ahnungslosigkeit helfen. Dieser „gerontologische Simulationsanzug“ ist eigentlich kein Anzug, sondern eine Reihe von Teilen: Gelenkbandagen, die Knie und Ellenbogen steif machen, Gewichtsmanschetten, die Kraftlosigkeit simulieren, eine gelbliche Brille, die das Gesichtsfeld einengt. Wer GERT anlegt, wird in eine Zukunft katapultiert, in der jeder Schritt schwer wird, jede Taste zu klein ist, Dinge generell störrisch ihren Dienst zu verweigern scheinen und die Welt sich von den Rändern her eintrübt. Das ist eine gute Übung in Empathie – und ein Moment des Erschreckens (man darf allerdings hoffen, dass es die Frustration mindert, wenn die Veränderung nicht mit plötzlicher Wucht, sondern schleichend und fast unmerklich über Jahre eintritt). Bei der vergangenen Ausgabe der Langen Nacht der Forschung hatten die Besucher die Gelegenheit, GERT auszuprobieren und schlagartig zu altern. Der Andrang war enorm, erzählt van der Sanden: „Auch die Kinder fanden das toll, zu erleben: So sieht also die Oma die Welt!“

Ihre eigene Großmutter ist 94 und lebt in den Niederlanden im Altersheim. Dort sei man technologisch weiter, sagt die Forscherin, Heimbewohner hätten zum Beispiel ein Tablet zur Verfügung. Die niederländischen Partner im laufenden Projekt sind auch besonders spezialisiert auf technologische Lösungen im Pflegebereich. Corona habe dabei einen neuen Aspekt der Nützlichkeit offenbart, erklärt van der Sanden: „Diese Lösungen sind eigentlich nie dazu da, menschlichen Kontakt zu ersetzen – aber in Ausnahmesituationen, wenn es wichtig ist, so wenige Menschen wie möglich zu treffen, dann können sie das unterstützen.“ Lösungen wie ein intelligenter Medikamentenspender etwa: Er wird in der Apotheke mit der jeweils passenden Kombination gefüllt und gibt mit lautem Ton zur richtigen Zeit ein Säckchen aus; entwickelt, um Sicherheit und Unabhängigkeit zu erhöhen, kann er auch die Zahl der Kontakte begrenzen.
In den Wochen des Lockdown, ohne Möglichkeit physischer Kontakte, zeigte sich aber auch, wie wichtig Technologie sein kann, um die Isolation zu durchbrechen. Van der Sanden rief in dieser Zeit einige der Testpersonen an, um zu sehen, wie sie zurechtkommen. „Manche, die zum Beispiel noch kein Whatsapp benutzen, hätten die Möglichkeit von Videoanrufen in dieser Situation schon geschätzt. Die sagten: Schade, dass ich es nicht vorher gelernt habe!“ Die Gemeinde Bruneck verteilte Laptops an Senioren, damit sie sich online mit Verwandten und Freunden treffen konnten. Das Altenheim Lorenzerhof in Lana kündigte an, künftig mehr Tablets für den Familienkontakt einzusetzen. Ob Corona womöglich nachhaltig verändern werde, wie gerade eine ältere Generation mit solcher Technologie umgeht, sei eine interessante Frage, sagt van der Sanden. So interessant, dass man in ihrem Institut gerade eine Untersuchung dazu plant.

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