Warum tut sich die EU so schwer, in Sachen Migration an einem Strang zu ziehen? Weil die Union für die meisten noch immer eine abstrakte Idee ist, erklärt Professor Walter Lorenz, Rektor der Freien Universität Bozen. Die große Chance für ein solidares Europa sieht der Sozialpädagoge in den Euroregionen.

Wo man auch hinsieht - Mittelmeer, Türkei, Ungarn - überall spielen sich Flüchtlingsdramen ab. Die EU reagiert entsetzt, verspricht Lösungen, kann sich nicht einigen. Alles bleibt wie gehabt. Warum tun wir uns so schwer mit den Zuwanderern aus der Fremde?

Lorenz: Migration ist ein Spezialthema, das das Fremdsein aufgrund kultureller, ethnischer, traditioneller Zugehörigkeiten thematisiert. Das Fremdsein an sich ist noch kein Problem. Im Gegenteil: Der Tourismus lebt davon, dass alles Exotische unseren Horizont erweitert. Problematisch wird es nur, wenn das Fremde in Bezug auf die Solidarität thematisiert wird.

Wie ist das zu verstehen?

Lorenz: Unsere Haltung zum Prinzip der Solidarität hat sich im Laufe der Geschichte radikal verändert. Für lange Zeit wurde Zugehörigkeit über Verwandtschaft, den Clan, bestimmt, später über spirituelle oder loyale Verpflichtung – im ersten Fall der Kirche, im zweiten dem Herrscher gegenüber. Mit der Industrialisierung setzte die Autonomisierung von Individuen in unserer Gesellschaft ein. Die Verfügbarkeit von Identitätsmodellen ist in der Moderne ins Unendliche gestiegen. Dies wiederum bedeutet Beliebigkeit in Bezug auf das, was mich mit anderen Menschen verbindet. Der Zwiespalt zwischen Beliebigkeit und dem Suchen nach neuer Verbindlichkeit ist eng mit dem Problem der Migration verbunden.

In diesem Zwiespalt scheint auch die EU zu stecken…

Lorenz: Die Unsicherheit gegenüber den Migranten rührt auch von der Unsicherheit her, was uns als Europäer eigentlich vereint. So werden die Grenzen innerhalb der Mitgliedsstaaten plötzlich in Frage gestellt, aber auch die Zugehörigkeit einzelner Länder wie Griechenland.

Die Art und Weise wie wir mit historischen Grenzerfahrungen umgehen, wird entscheidend für die Zukunft der EU sein.

Oder aber es werden Aussagen getätigt wie jene des ungarischen Premiers Orban, der aufgrund der Migration die christliche Kultur Europas in Gefahr sieht.

Lorenz: Das nennt sich dann künstliche Resolidarisierung nach willkürlich gewählten Kriterien wie Religion, Sprache oder territoriale Zugehörigkeit beziehungsweise Klassenzugehörigkeit. So nehmen beispielsweise in Europas Städten auch die sogenannten Gated Communities zu. Und der öffentliche Raum in Ballungszentren wird ständig weniger. Jugendliche können dort kaum noch Spaß haben, ohne dafür zu bezahlen. Wenn Mauern in unseren Städten hochgezogen werden, dann ist das auch eine Form der Entsolidarisierung, die man transversal sehen muss.

Eine interessante Verbindung die Sie da herstellen.

Lorenz: Und genau das war das Spannende am Euregio-Lab (siehe Kasten), bei dem wir gemeinsam mit 30 Experten aus unterschiedlichen Bereichen nicht nur über Solidarität gegenüber Flüchtlingen und Migranten gesprochen haben, sondern bei dem vor allem unsere persönlichen Beobachtungen zum Thema Solidarität und Entsolidarisierung mit eingeflossen sind.

Ist Südtirol aufgrund seiner Geschichte solidarischer mit Migranten?

Lorenz: Die Anerkennung der Diversität, das Verschieden-und-doch-eins-sein, wie es die Südtirol Autonomie zum Ausdruck bringt, lässt einen höheren Grad an Solidarität entstehen. Aufgrund dieser Erfahrung wird hier von Migranten weniger erwartet, dass sie sich sprachlich und kulturell einer „Leitkultur“ anpassen und ihre Herkunft negieren. Solidarisierung entsteht aber nicht nur durch die rechtlich-politische Anerkennung der Autonomie. In Südtirol ist sie vielmehr das Produkt vieler konzertierter Maßnahmen, etwa auch der Wirtschaftspolitik, die auf den Ausgleich der ökonomische Chancen von ländlichen und städtischen Gebieten baut.

„Europa kann seine Identität nicht mit Stacheldrähten schützen.“

Tirol wiederum kann auf eine längere Geschichte im Bereich der Integration zurückblicken. Was macht hier den Erfolg aus?

Lorenz: In Tirol wird an die Selbstrepräsentation der Migrantengruppen appelliert. Bei der Integration geht es also nicht nur darum, Dienste und Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Es wird vielmehr von den Migranten erwartet, dass sie – mit der nötigen Unterstützung – ihre eigenen Angelegenheiten in die Hand nehmen als mündige Mitbürger selbst.

Wie realistisch ist es, dass die Euregio Tirol mit unterschiedlicher Geschichte und verschiedenen Sprachen eine gemeinsame Migrationspolitik ins Auge fasst?

Lorenz: Die Frage müssten wir vielleicht umdrehen: Wie entsteht ein Zugehörigkeitsgefühl zur Euregio? Über konkrete gemeinsame Projekte! Ein Beispiel ist die Euregio-Universität, die wir zwischen den Standorten Innsbruck, Bozen und Trient anstreben, und mit der das Denken in Kategorien der nationalen, staatlichen Universitäten aufgehoben wird. Wenn wir uns als Euregio mit Migranten beschäftigen, vermindert sich das Gefühl, dass sich Probleme einfach externalisieren lassen: Sobald der Flüchtling die Grenze überwindet, ist er nicht mehr mein Problem.

Europäische Solidarität im kleinen Maßstab also.

Lorenz: So ist es. Der Europagedanke kann nicht über das x-te Gipfeltreffen der Mächtigen von oben herab auferlegt werden. Noch kann Europa seine Identität mit Stacheldrähten schützen. Der Europagedanke entsteht in der Region, dort, wo nationale Grenzen zum Vorteil der Einwohner und jener, die dort ein neues Zuhause suchen, überwunden werden. Die EU stagniert als Projekt, weil sie die Vorzüge der regionalen Selbstverwirklichung nicht ausreichend zu kommunizieren im Stande ist.

Was hält die Euregio Tirol im Jahr 2100 zusammen?

Lorenz: Der Stolz auf eine Region, die unter erschwerten Bedingungen oder gerade wegen der erschwerten Bedingungen einer alpinen Grenzregion eine gewisse Verbindlichkeit mit sich bringt. Die Art und Weise wie wir mit historischen Grenzerfahrungen umgehen, wird entscheidend für die Zukunft der EU sein.

Related Articles

Tecno-prodotti. Creati nuovi sensori triboelettrici nel laboratorio di sensoristica al NOI Techpark

I wearable sono dispositivi ormai imprescindibili nel settore sanitario e sportivo: un mercato in crescita a livello globale che ha bisogno di fonti di energia alternative e sensori affidabili, economici e sostenibili. Il laboratorio Sensing Technologies Lab della Libera Università di Bolzano (unibz) al Parco Tecnologico NOI Techpark ha realizzato un prototipo di dispositivo indossabile autoalimentato che soddisfa tutti questi requisiti. Un progetto nato grazie alla collaborazione con il Center for Sensing Solutions di Eurac Research e l’Advanced Technology Institute dell’Università del Surrey.

unibz forscht an technologischen Lösungen zur Erhaltung des Permafrostes in den Dolomiten

Wie kann brüchig gewordener Boden in den Dolomiten gekühlt und damit gesichert werden? Am Samstag, den 9. September fand in Cortina d'Ampezzo an der Bergstation der Sesselbahn Pian Ra Valles Bus Tofana die Präsentation des Projekts „Rescue Permafrost " statt. Ein Projekt, das in Zusammenarbeit mit Fachleuten für nachhaltiges Design, darunter einem Forschungsteam für Umweltphysik der unibz, entwickelt wurde. Das gemeinsame Ziel: das gefährliche Auftauen des Permafrosts zu verhindern, ein Phänomen, das aufgrund des globalen Klimawandels immer öfter auftritt. Die Freie Universität Bozen hat nun im Rahmen des Forschungsprojekts eine erste dynamische Analyse der Auswirkungen einer technologischen Lösung zur Kühlung der Bodentemperatur durchgeführt.

Article
Gesunde Böden dank Partizipation der Bevölkerung: unibz koordiniert Citizen-Science-Projekt ECHO

Die Citizen-Science-Initiative „ECHO - Engaging Citizens in soil science: the road to Healthier Soils" zielt darauf ab, das Wissen und das Bewusstsein der EU-Bürger:innen für die Bodengesundheit über deren aktive Einbeziehung in das Projekt zu verbessern. Mit 16 Teilnehmern aus ganz Europa - 10 führenden Universitäten und Forschungszentren, 4 KMU und 2 Stiftungen - wird ECHO 16.500 Standorte in verschiedenen klimatischen und biogeografischen Regionen bewerten, um seine ehrgeizigen Ziele zu erreichen.

Article
Erstversorgung: Drohnen machen den Unterschied

Die Ergebnisse einer Studie von Eurac Research und der Bergrettung Südtirol liegen vor.