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In die EU-Geldpolitik soll wieder Normalität einziehen: Das Anleihekaufprogramm der EZB läuft demnächst aus, und die Zinsen werden steigen. Was bedeutet das für Europa und Italien? Der Verhaltensökonom Martin Kocher über Leidensdruck als Voraussetzung für Reformen, kostspielige Politikerstatements und wirtschaftswissenschaftliche Forschung, die zu besseren Entscheidungen führt.

Ein großer Umbruch steht bevor: Das Anleihekaufprogramm der Europäischen Zentralbank wird demnächst auslaufen, und auch ein Ende der Niedrigzinspolitik ist für nächstes Jahr angekündigt. Wie sehen Sie die Zukunft der Eurozone?

Martin Kocher: Die Anleihekäufe der EZB waren ebenso wie die niedrigen Zinsen eine Reaktion auf die Finanzkrise 2007 bis 2009. Das war notwendig, da sind die Experten sich einig. Ähnliche Krisen hat es in dieser Form und Dimension schon vorher gegeben, aber da gab es noch keinen Euro, kein so stark integriertes Europa – deshalb haben wir, was die wirtschaftliche Lage betrifft, tatsächlich eine Ausnahmesituation. Die Geldpolitik ist 2019 sicher der entscheidende Punkt. Die Frage ist: Wie schnell fährt man die krisenbedingt expansive Geldpolitik auf normales Niveau zurück? Das ist vor allem für jene Staaten von Bedeutung, die von höheren Zinsen getroffen werden, weil sie hohe Schuldenstände haben, also auch für Italien. Die EZB hat die schwierige Aufgabe, einerseits ihre Handlungsfähigkeit wiederherzustellen – sich in die Lage zu versetzen, in der nächsten Krise die Zinsen wieder senken zu können, um die Wirtschaft anzukurbeln –, andererseits aber nicht mit steigenden Zinsen die Konjunktur abzuwürgen und Staaten mit hohen Schulden zu gefährden. Bisher hat die EZB im Rahmen dessen, was möglich war, eine relativ gute Politik gemacht. Ich denke, man wird da versuchen, möglichst vorsichtig vorzugehen. Aber das wird auch davon abhängen, wer neuer EZB-Präsident wird, Mario Draghis Mandat läuft ja aus.

Spekulationen wie "man könnte ja aus dem Euro aussteigen" sind kostspieliger als die Tatsache, dass die Zinsen irgendwann steigen werden.

Steckt in dieser Situation auch politischer Sprengstoff für Europa?

Kocher: Politisch scheint es einen gewissen Keil zwischen Norden und Süden zu geben, der durch den Euro verstärkt wurde, weil bei der Konstruktion der Eurozone eine zentrale Frage nicht beantwortet wurde: Welche Anpassungsmechanismen schafft man für jene Staaten, die mit der Niedrigzins- und Hartwährungspolitik des Euros Schwierigkeiten haben? Diese Konstruktionsmängel der Eurozone bestehen immer noch, und wenn sie nicht beseitigt sind, bevor wir in die nächste große Krise einlaufen, dann haben wir wirklich ein Problem. Dann muss man wieder Ad-hoc-Maßnahmen treffen, und das ist wirtschaftlich gesehen meist nicht so gut. Andererseits hat sich die EU in solchen Situationen immer weiterentwickelt: Offensichtlich ist ein gewisser Leidensdruck die Voraussetzung für Reformen.

Wenn die EZB im zweiten Halbjahr 2019 wie angekündigt die Zinsen erhöht – wie dramatisch wird das in Ihren Augen für Italien?

Kocher: Da muss man sich anpassen, daran führt kein Weg vorbei. Dass es schwieriger wird als bisher, ist klar; aber wenn die Zinserhöhungen nicht zu schnell erfolgen, ist es schon machbar. Im Moment sind es weniger die wirtschaftlichen als die politischen Bedingungen, die sich negativ auf die Zinsbelastung Italiens auswirken. Es gibt da eine gewisse Unsicherheit, und die hat die Politik noch befeuert mit Aussagen wie „Man könnte ja auch aus dem Euro austreten, wenn es unbedingt sein müsste“. Diese Spekulationen sind in gewisser Weise kostspieliger als die Tatsache, dass die Zinsen irgendwann steigen werden.

Wir wissen, dass nicht nur Menschen als Konsumenten Fehler machen – auch Firmen machen Fehler, und sie sind systematisch und man kann sie auch ganz gut modellieren.

Damit sind wir schon bei der Rolle der Psychologie in der Wirtschaft, Ihrem Spezialgebiet.
Kocher: Die Psychologie hat in der Wirtschaft immer eine große Rolle gespielt, wir als Wissenschaftler haben sie nur manchmal zu wenig gewürdigt. Man sieht ihre Bedeutung ständig, an ganz konkreten Beispielen: Der Brexit zum Beispiel wäre ohne die psychologischen Faktoren nicht so kompliziert. Das ist wie gesagt nicht neu, aber was heute dazukommt, sind die sozialen Medien, die alles viel schneller und gefiltert an die Leute herantragen. Für die Menschen ist es schwieriger, zu unterscheiden, was richtig ist, was falsch. Dadurch entstehen leicht Blasen, Fake News usw., und das macht es auch für die Politik und die Wirtschaftspolitik schwieriger. Die Unsicherheit, das Auf und Ab auf den Finanzmärkten – das gab es immer schon, aber jetzt hat es zugenommen, ist unmittelbarer. Solche psychologischen und soziologischen Faktoren in der Wirtschaft berücksichtigt die Verhaltensökonomie.

Ein neues Gebiet der Wirtschaftswissenschaften, das viele mit Begeisterung verfolgen ...
Kocher: Letztlich sind ja alle ökonomischen Phänomene die Summe von Entscheidungen – Unternehmerentscheidungen, Konsumentenentscheidungen, politische Entscheidungen. Die Verhaltensökonomie versucht, diese Entscheidungen besser zu verstehen und auch ihre Tiefe und Vielfältigkeit zu berücksichtigen. Auf der Makroebene ist das kompliziert, weil es so viele Player gibt. Aber auf der Mikroebene – und vieles sind ja doch mikroökonomische Faktoren – kann man Entscheidungen mittlerweile sehr gut verstehen. Und die Verhaltensökonomie versucht, diese Entscheidungen zu modellieren und auf diese Weise herauszufinden, wie Anreizsysteme aussehen müssen, damit sie zu besseren Entscheidungen führen.

Dabei spielen auch irrationale Komponenten eine Rolle, doch die hat man lange Zeit vernachlässigt.
Kocher: Ja, die wurden wenig beachtet, auch die Emotionen zum Beispiel, die wir alle haben und die bei Entscheidungen eine ganz große Rolle spielen. Nicht, dass man das nicht wusste – schon bei Adam Smith ist das ganz tief verankert. Aber bis vor 20, 30 Jahren hat die Wirtschaftswissenschaft das einfach nicht als wirklich relevant empfunden. Jetzt haben wir erkannt, es ist viel relevanter, als wir immer dachten! Wir wissen, dass nicht nur Menschen als Konsumenten Fehler machen – auch Firmen machen Fehler, und sie sind systematisch und man kann sie auch ganz gut modellieren. Dadurch lassen sich auch Phänomene auf der Marktebene besser erklären.

In Ihrer Forschung arbeiten Sie unter anderem mit Experimenten – wie sieht das genau aus?
Kocher: Experimentelle Wirtschaftsforschung ist eine empirische Methode, um Verhalten zu verstehen und Verhaltenshypothesen auch wirklich zu testen. Wir haben heute den Vorteil, dass man sehr einfach Experimente implementieren kann, weil man ja oft kontrollierte Bedingungen hat, auch in der realen Welt. Sehr viele Unternehmen machen Experimente, um herauszufinden: Was funktioniert? Was funktioniert nicht? Google zum Beispiel macht jeden Tag Experimente zur Platzierung von Suchergebnissen, zur Platzierung von Werbung. Fluggesellschaften machen Experimente mit den Preisstrukturen beim Online-Buchen. Das alles ist heute in Unternehmen Standard, und auch in der Wissenschaft nutzen wir es mehr und mehr – wodurch wir, glaube ich, mehr lernen als früher. Der Begriff Experiment weckt manchmal Ängste, aber letztlich ist ein Experiment nichts anderes als ein systematischer Test, ob Variante A oder Variante B die bessere ist. Auf Basis von Felddaten ist das oft schwer zu beurteilen, aber wenn man es in einem Experiment testet, dann hat man kausale Evidenz für den Mechanismus.

Wir haben über die wirtschaftliche Lage Europas gesprochen – wie sehen Sie die politische Zukunft?
Kocher: Ich glaube, dass die jetzige Konstellation in Europa, die Institutionenlandschaft, nicht langfristig stabil ist. In den nächsten fünf bis zehn Jahren wird man sich entscheiden müssen: Will man mehr Integration oder weniger Integration? Ich bin ein großer Fan einer tieferen Integration. Doch auch weniger Integration muss nicht automatisch mehr Konflikt bedeuten. Ich glaube aber, wir stehen an einem Scheideweg.

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