Ein Gespräch mit dem amerikanischen Wissenschaftsaktivisten Trebor Scholz über Big Tech Monopole, die prekäre Situation der Crowdworker und darüber, wie wir uns mit Hilfe von Plattform-Kooperativismus die digitale Welt wieder zu Eigen machen.

Die Plattform-Ökonomie des digitalen Zeitalters hat unsere Geschäftsmodelle radikal verändert. Plattformen wie Airbnb, Uber und Deliveroo konnten in den vergangenen Jahren ein enormes Wachstum verbuchen. Trotzdem oder gerade deshalb ist weltweit eine Krise des Plattformkapitalismus zu  beobachten. Prekäre Arbeitsbedingungen für Angestellte und Freiberufler, Lohndumping, extreme  wirtschaftliche Ungleichheit und der schwindende Einfluss der Gewerkschaften sind nur einige der Symptome. Neue Monopole verdrängen kleinere Unternehmen und Lieferketten haben sich als alles  andere als nachhaltig herausgestellt. Auf der anderen Seite sind mindestens 12 Prozent der  Weltbevölkerung in einer der 3 Millionen Genossenschaften organisiert. Genossenschaften ermöglichen es den Menschen, ihre wirtschaftliche Zukunft selbst in die Hand zu nehmen. Da sie nicht im Besitz von Anteilseignern sind, kommen die wirtschaftlichen und sozialen Vorteile ihrer Aktivitäten den  Gemeinschaften zugute, in denen sie gegründet wurden.

Herr Scholz, was genau ist Plattform-Kooperativismus?

Trebor Scholz: Nun, Kooperativen gibt es seit 1844, zumindest wurde damals die erste Kooperative oder Genossenschaft gegründet, die wir als solche anerkennen würden, nämlich die Rochdale Pioneer Society in England. Die Menschen waren hungrig und suchten nach Wegen, um ihre Kinder zu ernähren. Also gründeten sie eine Verbrauchergenossenschaft, um Grundnahrungsmittel zu kaufen. Daraus entwickelten sich schließlich die Arbeitergenossenschaften, die sich bis heute für soziale Gerechtigkeit und Demokratie am Arbeitsplatz einsetzen. Der Plattform- Kooperativismus, wie ich ihn 2014 ins Leben gerufen habe, ist  eine Möglichkeit, das Genossenschaftsmodell ins Internetzeitalter zu führen und weiterzuentwickeln.
Mit „Platform Coop“ wollen wir eine Drehscheibe für die Gründung von Plattform-Kooperativen weltweit bieten. Das sind Unternehmen, die eine Website, eine App oder ein Protokoll nutzen, um Waren oder Dienstleistungen zu verkaufen. Sie stützen sich auf demokratische Entscheidungsfindung,  Mitverantwortung und auf faire Arbeitsbedingungen. Würde man heute eine Befragung starten, wüsste wohl nur einer von tausend Menschen, was Plattform- Kooperativismus ist, da es weltweit erst etwa 500 dieser digitalen Projekte gibt. Die Grassroots-Bewegungen, die hinter diesen Projekten stehen, sind jedoch überall bereits eine starke Gegenkraft gegen Monopole und Prekarität.

Gibt es ein konkretes Beispiel? 

Scholz: Eine mittlerweile auch in Italien organisierte Plattform-G Genossenschaft ist smart.coop, eine Kooperative, die unabhängige Auftragnehmende zu Angestellten der Genossenschaft macht. Wenn Sie freiberuflich tätig sind, etwa als Kunstschaffende, übernimmt smart Ihr Honorar und zahlt Ihnen davon ein monatliches Gehalt, kümmert sich um die Buchhaltung, richtet einen Notfallfonds ein und bezahlt die Krankenversicherung. Auch ein Pensionsfonds ist geplant. Einige Menschen haben durch smart sogar eine Staatsbürgerschaft erhalten, weil sie eine feste Anstellung nachweisen konnten. 

Bei einem Workshop in Südtirol hoben  Sie vor Kurzem hervor, dass Genossenschaften in der Regel aus echten Notwendigkeiten heraus entstehenWas war für Sie der  entscheidende Impuls zur Gründung von „Platform Coop“?

Scholz: Es war ein ganz klares Ereignis. 2014 sprach ich auf der re:publica, einer großen Medienkonferenz, über die Situation der Crowdworker, also jener Menschen, die für Plattformen wie Amazon Mechanical Turk oder Upwork arbeiten. Diese Crowdworker arbeiten unter wirklich prekärsten Bedingungen mit  einem Lohn von etwa zwei bis drei Dollar pro Stunde. Ich erinnere mich, wie ich darüber mit einigen Anwälten sprach, die mir zunächst nicht glauben wollten, denn ein solcher Lohn sei schlichtweg illegal. Nun, aber genau solche Zustände sind heute vielerorts gang und gäbe, ermöglicht durch eine riesige juristische Grauzone. Als ich nun diesen Vortrag hielt, sah ich wie etwa tausend Zuhörer, angesichts der Ungerechtigkeit, über die ich da sprach, immer tiefer und tiefer in ihren Sesseln versanken. Auch, weil es scheinbar keinen Ausweg gibt. Die Behörden unternehmen nichts. Die politischen Entscheidungsträger kümmern sich nicht. Die Arbeiter? Nun ja, sie haben Briefe an Jeff Bezos geschrieben und es gab einige nette Projekte, die versuchten, die Arbeiter untereinander zu vernetzen. Das war fantastisch, aber das änderte nichts an den Arbeitsbedingungen. Meine Frage war also, wie wir tatsächlich eingreifen könnten. Das ist im akademischen Bereich ein ungewöhnliches Vorgehen. In der Wissenschaft wird dazu angehalten, zu beobachten, aufzunehmen und zu analysieren, aber nicht einzugreifen. Ich habe also gewissermaßen mit dieser Regel gebrochen und einen Weg vorgeschlagen, wie die Ungerechtigkeiten in der Plattformwirtschaft konkret angegangen, vielleicht sogar behoben werden könnten. Das bildete den Rahmen für den Plattform-Kooperativismus. 

 

In der Wissenschaft wird dazu angehalten, zu beobachten, aber nicht einzugreifen. Ich habe gewissermaßen mit dieser Regel gebrochen und einen Weg vorgeschlagen, wie die Ungerechtigkeit in der Plattformökonomie angegangen werden könnte.

In Südtirol sind durch die Corona-Krise neue genossenschaftliche Initiativen entstanden. Könnte die Krise ein Wendepunkt hin zu einer gerechteren Wirtschaft und einer besseren Zusammenarbeit sein?

Scholz: Ich würde die gegenwärtige Situation in der Tat als einen kooperativen Moment bezeichnen. Die aktuellen Bedingungen waren schon immer Ausgangspunkt für die Gründung von Genossenschaften.
Nicht nur in den USA, sondern auch in vielen anderen Ländern, ist eine pessimistische Einstellung gegenüber der Regierung nichts anderes als Realismus. Es besteht ein tiefes Misstrauen gegenüber der Politik und den Institutionen. Wenn man sich das Arbeitsrecht in den USA ansieht, so hat es sich seit 1972 nicht wesentlich zugunsten der Arbeitnehmer verändert – was in der amerikanischen Denkweise begründet liegt. The Fountainhead von Ayn Rand ist eines der wohl einflussreichsten Bücher in den USA und predigt im Grunde genommen, dass man sich nur auf sich selbst verlassen kann. Es befürwortet einen tiefen Individualismus. Davon ist auch die Ideologie des Silicon Valley geprägt und damit ein großer Teil der Plattformwirtschaft. Um diese Denkweise zu ändern, genügt es nicht, einen guten Vorschlag zu haben. Denn auch wenn etwas gut funktioniert, muss man die Leute trotzdem noch davon überzeugen dass es etwas Gutes ist. Das Interessante am Plattform-Kooperativismus ist, dass es eines der wenigen Konzepte ist, auf das sich Mitglieder verschiedener Parteien einigen können. Einigen geht es nur um die Möglichkeit des Wirtschaftens. Und dann gibt es andere, die den Kapitalismus zerstören wollen. Beide sind aus verschiedenen Gründen dabei, und trotzdem arbeiten sie zusammen.

Wie kann man Menschen dazu motivieren, sich an neuen Initiativen zu beteiligen?

Scholz: Vielleicht beginne ich damit, wie man es besser nicht mache sollte. Wenn man etwa an der Universität sitzt, eine Idee entwirft und dann hinausgeht zu den Leuten und sagt: Schaut euch meine
wunderbare Idee an, warum macht ihr nicht mit, dann wird das nicht funktionieren.
Es geht darum, zu zeigen, dass ein Problem meist ein Problem vieler, und eine Zusammenarbeit sinnvoll ist. Wir haben Monopole in allen Bereichen, von der Landwirtschaft über die Medizin bis hin zu den sozialen Medien. Diese Marktmacht ist einer der Hauptgründe, warum sich die Menschen uns anschließen.
Denn sind wir wirklich damit einverstanden, dass unser Internet von fünf großen Unternehmen kontrolliert wird? Dieser Mangel an Wahlmöglichkeiten wird noch deutlicher, wenn man bedenkt,
dass 70 Prozent unserer Internetnutzung über Webseiten geleitet wird, die von Facebook oder Google betrieben werden. Big Tech ist genau das, was der Plattform- Kooperativismus ablehnt. Er vertritt eine ganz andere Denkweise als das Silicon Valley. Es geht um ein ganzes Ökosystem, um eine Gruppe von verschiedenen Projekten, die schlussendlich ineinanderwirken. Bei „Platform Coop“ geht es darum, Menschen mit der Technologie in Verbindung zu bringen und Wege aufzuzeigen, über die sie vorher vielleicht noch nicht nachgedacht haben.

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