Die beiden Linguistinnen Andrea Abel (Eurac Research/unibz) und Birgit Alber (unibz) forschen und lehren zur deutschen Sprache. Im Interview räumen sie mit der Annahme auf: Es gibt nur das eine Standarddeutsch. Es gibt viele Standardvarietäten, die alle gleichberechtigt nebeneinanderstehen. Genauso wichtig ist den beiden die Aufwertung des Dialekts. Dieser schaffe Zugehörigkeit und befruchte die Standardvarietäten.

Frau Professor Alber, könnte man behaupten, dass Sie eher Spezialistin für die mündliche Sprache sind, und Sie Frau Professor Abel, für die schriftliche?

Birgit Alber: Ganz so einfach ist es nicht. Als Linguistin interessiere ich mich vor allem für die Struktur der Sprache, also die Grammatik. Ich untersuche die Lautstrukturen der Sprachen oder aus welchen Bausteinen sich Wörter und Sätze in den verschiedenen Sprachen zusammensetzen. Und ja, da ich mich in diesem Bereich vor allem mit der Lautebene befasse, der Phonologie, habe ich oft mit gesprochener Sprache zu tun, häufig auch mit Dialekt.

Andrea Abel: Ich würde mich dann eher in der Sprachverwendung verorten. Wir alle kommunizieren, um sprachlich zu handeln, also etwas zu erreichen. Auch da richten wir uns nach sprachlichen Normen. Das sind jetzt nicht Naturgesetze, die vom Himmel fallen, sondern gesellschaftliche Normen und Erwartungen, die sich laufend verändern. Ein Beispiel: In den Fernsehnachrichten wird Standarddeutsch gesprochen, nicht Dialekt. Texte werden üblicherweise auch auf Standarddeutsch verfasst, in Print- oder Online-Medien. Einen neuen Trend sehen wir bei den Sozialen Medien, wo junge Menschen sehr häufig im Dialekt kommunizieren.

 

Kann man sagen, dass die Sozialen Medien den Dialekt wieder salonfähig gemacht haben? Lange Zeit galt er als Sprachbarriere.

Abel: Das geht auf eine Theorie aus den 1950er Jahren zurück, wonach der Dialekt ein restringierter Code sei, der vor allem von der Unterschicht gesprochen werde, wobei mit Unterschicht die Arbeiterschicht gemeint war. Dass eine einfache Unterteilung der Gesellschaft in Arbeiter- und bürgerliche Mittelschicht so nicht mehr aktuell ist, liegt auf der Hand. Ein Dialekt kann, so sehen wir das heute, ein wichtiger Bestandteil im Sprachenrepertoire der Sprecherinnen und Sprecher sein.

Alber: Der Dialekt hat eine stark identitätsstiftende Funktion. Er signalisiert dem Gesprächspartner Nähe. In einer zunehmend globalisierten Welt schafft er ein Zugehörigkeitsgefühl. Insgesamt wird in Südtirol viel Dialekt gesprochen und auch geschrieben. Man will also die eigene Regionalität betonen. Was aber nicht bedeutet, dass einem der Zugang zur größeren Welt verwehrt bleibt. Die deutschsprachigen Jugendlichen kennen auch das Standarddeutsche, über Schule und Medien.

 

Kann man dieses Nebeneinander von Standarddeutsch und Dialekt auch schon als Mehrsprachigkeit bezeichnen?

Abel: Ja. Wir Linguistinnen unterscheiden zwischen innerer und äußerer Mehrsprachigkeit, wenn wir vom Beherrschen verschiedener Varietäten in einer Sprache reden, die je nach Bedarf zum Einsatz kommen. Hier im Interview spreche ich eher umgangssprachlich, auf einem Kongress würde ich formeller auftreten und mehr linguistischen Fachwortschatz verwenden. Das sind unterschiedliche Register, die zu meinem sprachlichen Repertoire dazugehören. Alber: Im Idealfall sprechen wir alle dem jeweiligen Kontext angemessen. Der Dialekt ist in einigen Kontexten perfekt und in anderen ist es eben die Standardvarietät – die sich wiederum von Norden nach Süden unterscheiden kann. Und dann gibt es auch noch die Zwischenregister, Regionalsprachen, die sich zwischen Dialekt und Standard ansiedeln.

Der Dialekt hat eine stark identitätsstiftende Funktion. In einer zunehmend globalisierten Welt schafft er ein Zugehörigkeitsgefühl.

Und das kriegen Kinder schon von klein auf über ihren Alltag mit?

Alber: Bei den Kindern geht das ganz natürlich. Die lernen schnell: Daheim wird Dialekt gesprochen, im Fernsehen hören sie Standard. Wir als Erwachsene machen uns da oft mehr Sorgen. Viele sehen im Dialekt – was die Struktur angeht – ein defizitäres, falsches System. Das stimmt so nicht. Der Dialekt ist ein komplettes Sprachsystem so wie andere auch. An manchen Ecken komplizierter, an manchen Ecken einfacher als die Standardsprache, aber auf jeden Fall voll funktional für alle Kontexte, in denen wir ihn verwenden möchten.

 

Das heißt, wir sollten den Dialekt aufwerten?

Alber: Der Dialekt hat, wie gesagt, eine stark identitätsstiftende Funktion, kann gleichzeitig aber auch ausgrenzend sein. Wenn er in einer Situation verwendet wird, wo einige Menschen keinen Dialekt sprechen, also italienische Muttersprachler, Personen mit Migrationshintergrund, aber auch Personen aus Deutschland.

 

Wenn viel Dialekt gesprochen und geschrieben wird, was macht das dann mit dem Standarddeutsch?

Alber: Lieber als vom einem Standarddeutsch würde ich von Standardvarietäten sprechen. Denn es gibt nicht nur das eine richtige Deutsch. Auch wenn sich der Mythos der einen deutschen Standardsprache, die in Hannover gesprochen wird, noch immer hält. Es gibt viele Standardvarietäten, auch eine Südtirolerische. Zu der sollten wir stehen, ohne immer gleich Noten vergeben zu wollen.

Abel: Das sehe ich genauso. Als Linguistin weiß ich aber auch, dass wenige um die Standardvarietäten wissen. Selbst Deutschlehrkräfte sind oft verunsichert. Nicht nur bei uns in Südtirol, auch etwa in Österreich. Menschen tendieren oft zur dominanten Standardvarietät, in Bezug auf das Deutsche ist es der in Deutschland verwendete Standard. Eine solche monozentrische Sprachauffassung, dass es nur das eine richtige Deutsch gibt, gilt in der Sprachwissenschaft als überholt. Was die Deutschkompetenzen in Südtirol betrifft, haben wir Daten zur Schreibkompetenz an den deutschen Oberschulen. In einer Vergleichsstudie mit Österreich und Deutschland bewegen wir uns im Mittelfeld. Sehr gut schneiden wir im Bereich Rechtschreibung ab, etwas schlechter hingegen auf der Textebene, etwa beim überzeugenden Argumentieren.

 

Wie erklären sie sich diese Ergebnisse?

Abel: Die gute Rechtschreibnote rührt wohl daher, dass sich die Schule in Südtirol lange sehr stark auf Aspekte der sprachlichen Korrektheit konzentriert hat, was sich durch das sprachpolitische Anliegen wie den Schutz des Deutschen als Minderheitensprache erklären lässt. Wichtig ist es aber, Sprache als Kommunikationsmittel zu betrachten und als dynamisches, variantenreiches System, was in Bildungskontexten auch zunehmend geschieht.

 

Das heißt, es werden in der Schule unter Umständen Dinge ausgebessert, die eigentlich durchaus der Standardvarietät entsprechen würden?

Abel: Ja. Das ist sogar durch Studien belegt. In Österreich gab es eine große Studie „Deutsch in Österreich“ von Rudolf De Cillia und Jutta Ransmayr, die das untersucht haben. Und dann gab es eine ähnliche Doktorarbeit für Südtirol von Silvia Hofer. Sie hat auch festgestellt, dass Lehrkräfte manchmal bestimmte Südtiroler Besonderheiten als fehlerhaft anstreichen, beispielsweise wenn ein Schüler Marillen schreibt und nicht Aprikosen, wie die bundesdeutsche Variante lautet. Als die Ergebnisse zu „Deutsch in Österreich“ erschienen, wurde viel in den Medien darüber berichtet. Auch die bundesdeutsche Presse hat darüber geschrieben, so nach dem Motto: Ah, die Österreicher! Die spinnen komplett, die glauben, ihr Dialekt sei Standard. Dabei ging es dem Forschungsteam nicht darum, irgendeinen Dialekt zum Standard zu erheben, sondern um die Beschreibung der österreichischen Standardvarietät.

 

Und was kann Forschung tun, um dieses sprachliche Selbstbewusstsein stärker zu verbreiten?

Abel: (lacht) Ein Interview wie dieses führen, um auch Nicht-Experten zu erreichen.

Alber: Und natürlich gehen wir auf diese Thematik in unserer Lehre ein. Wir unterrichten beide im Studiengang Bildungswissenschaften, wo wir die nächsten Generationen der Grundschullehrkräfte ausbilden.

Spannend für uns Linguistinnen ist, dass wir bei der Standardisierung der Dialekt-Verschriftlichung fast zeitnah verfolgen können, wie sich Regeln und Normen durchsetzen.

Kommen wir kurz zurück auf den Dialekt, den sie beide genauso erforschen. Woran sitzen Sie gerade?

Alber: Eurac Research und die Freie Universität Bozen untersuchen in einem gemeinsamen Projekt den geschriebenen Dialekt. Als Grundlage dienen uns WhatsApp-Nachrichten von Studierenden der Fakultät für Bildungswissenschaften. Das neue Phänomen, dass Dialekt auch geschrieben wird, finde ich persönlich äußerst spannend. Hier zeigt sich die Kreativität, die schon immer zur Verwendung von Sprache gehört. Ich muss mir ja überlegen, wie ich den Dialekt verschriftliche. Soll ich jetzt ‚lai‘ mit <ai> schreiben, oder (wie im Standarddeutschen) mit <ei>? Aber wenn ich es mit <ei> schreibe, dann verwechselt man es vielleicht mit Diphthongen wie beispielweise in ‚reidn‘? Diese sprachlichen Probleme muss ein Dialektschreiber lösen und ich denke, dass er damit auch sein sprachliches Wissen trainiert.

Abel: Spannend für uns Linguistinnen ist, dass wir bei der Standardisierung der Dialekt-Verschriftlichung fast zeitnah verfolgen können, wie sich Regeln und Normen durchsetzen. Ein bisschen so wie damals in den mittelalterlichen Schreibstuben: Es ist ein Ringen um den Ausgleich zwischen verschiedenen Dialekten. Bei Luther und seiner Bibelübersetzung waren es oberdeutsche und nicht-oberdeutsche Dialekte. Damals war Sprachforschung einzelnen auserwählten Gelehrten vorbehalten, heute wird Sprache von allen mitgestaltet.

 

Sprachforschung greift zunehmend auch auf das Konzept der Citizen Science zurück, beteiligt also die Bürgerinnen und Bürger an ihrer Forschungsarbeit.

Alber: Auch dazu haben wir ein interessantes Projekt. Zusammen mit den Universitäten Trient und Verona betreiben wir die Plattform vinko.it, mit deren Hilfe wir Daten zu allen Sprachen und Dialekten in Südtirol, Trentino und Veneto sammeln – von den Tiroler Dialekten über das Fersentalerische, Zimbrische, Ladinische, bis zu den Dialekten des Trentino und Veneto. Das Interessante an Vinko ist, dass es sich um ein Crowdsourcing-Projekt handelt: Jeder, der einen Dialekt dieser Großregion spricht, kann sich auf der Plattform einloggen, unsere Fragebögen aufrufen, und dazu Sprachproben zu seinem Dialekt hinterlassen. Die hinterlegten Sprachproben werden dann auf einer Karte visualisiert.

Abel: Und mit der besseren digitalen Erschließung historischer Zeitungen aus dem Tiroler Raum, also älteren Formen des Deutschen, beschäftigen wir uns im Projekt Zeit.shift in Zusammenarbeit mit der Landesbibliothek Teßmann und der Universität Innsbruck – und eben auch mit Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger. Hier kann man tatsächlich spielend Textfragmente in Fraktur korrigieren. (https://eurac.itch.io/oetzit)

Alber: CitizenScience-Projekte, bei denen die Sprachgemeinschaften direkt eingebunden werden, liefern nicht nur einen unglaublichen Fundus für uns Linguistinnen, sie schaffen auch mehr Selbstbewusstsein in Sachen Sprachenvielfalt. Daran sollte es uns in Südtirol wirklich nicht fehlen.

Foto: Ivo Corrà

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