Außenpolitik in Bürgerhand
Der Europäische Verbund für territoriale Zusammenarbeit (EVTZ) ist für uns Bürger "das" Rechtsinstrument in der EU, um (fast) alles möglich zu machen.
„Während nur 7% der Bürger innerhalb der EU mobil sind, finden 80% dieser Mobilität in Grenzregionen statt“, so unterstreicht Andreas Kiefer, Generalsekretär des Kongresses der Gemeinden und Regionen des Europarates, die zunehmende Bedeutung der Grenzregionen.
Grenzüberschreitende Zusammenarbeit gilt nicht erst seit gestern als Allheilmittel gegen die Nachteile, die sich für Randregionen aus ihrer peripheren Lage ergeben. Der Blick über die Staatsgrenze ließ neue Räume mit gemeinsamen Interessen und Bedürfnissen entstehen.
In der Praxis bremsten aber lange Zeit rechtliche und bürokratische Hürden die Kooperationen aus, so dass erst seit 2006 mit einem neuen Rechtsinstrument der EU innovative Wege offen stehen. Seitdem können Gebietskörperschaften beiderseits der Grenze einen EVTZ gründen. Ihre Kooperation erhält damit einen festen rechtlichen Rahmen, ist mit eigener Rechtspersönlichkeit ausgestattet und verfügt über Organe, eine Satzung sowie feste Finanzierung.
Zu Beginn haben sich immer wieder Verzögerungen aus den komplexen Gründungsverfahren ergeben. Daher schreckten in den ersten Jahren viele Gebietskörperschaften vor der Errichtung eines gemeinsamen EVTZ zurück. Bis Ende 2014 hat sich aber ein zunehmend schnellerer Anstieg gezeigt, mit inzwischen 48 registrierten EVTZ. Dies beweist, dass die Vorteile eines EVTZ inzwischen allgemein geschätzt werden. Es sind vor allem die lokalen Interessen der Bürger, die im Mittelpunkt stehen. Gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit, gemeinsame Erbringung von Dienstleistungen oder die Einbindung jedes einzelnen Bürgers durch partizipative Demokratie sind einige von zahlreichen Schlagwörtern, die einen EVTZ kennzeichnen können.
Jeder EVTZ ist einzigartig und ein Spiegel seines Territoriums. Denn jeder EVTZ muss sich ein auf sein Gebiet abgestimmtes Ziel, seine Struktur und Arbeitsweise sowie ein konkretes Arbeitsprogramm geben. Die Vorgaben der diesbezüglichen EU-Verordnung sind absichtlich weit gefasst und an die jeweiligen Bedürfnisse anpassbar. Die rechtlich größte Hürde stellt jedoch die Voraussetzung dar, dass alle Gebietskörperschaften, die den EVTZ gründen, nach ihrem innerstaatlichen Recht über dieselben Kompetenzen verfügen müssen. Nur wenn alle Mitglieder eines EVTZ z.B. den öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) in ihrem Gebiet regeln dürfen, kann auch ein grenzüberschreitendes Projekt zum ÖPNV realisiert werden.
Die EU möchte mit dem Rechtsinstrument EVTZ den wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt in ihren Mitgliedstaaten fördern. So die EU Verordnung. Aber die Zusammenarbeit geht viel weiter und führt von purer Kooperation zu einer echten Integration seiner Bürger.
1) Bürgerbeteiligung
Der EVTZ „GECT GO” (Gruppo europeo di cooperazione territoriale di Gorizia, Nova Gorica e Šempeter-Vrtojba) an der italienisch-slowenischen Grenze geht den innovativen Weg der partizipativen Demokratie: Innerhalb von Fachausschüssen wird zu den vier Themen Transportwesen, Energie, Gesundheit sowie Kultur und Bildung eine „Strategie der integrierten Raumentwicklung“ erarbeitet, bei der aktiv die Zivilgesellschaft eingebunden wird. Jeder Bürger kann Vorschläge einreichen und so mitbestimmen, wie das endgültige Arbeitsprogramm des erst Ende 2011 gegründeten EVTZ aussehen soll. http://www.euro-go.eu/it/ consultazioni-pubbliche/la-tuavoce- nel-gect
2) Seltene Gründungsmitglieder
Der 2013 gegründete EVTZ Parco europeo / Parc européen Alpi Marittime Mercantour umfasst den italienischen Nationalpark Alpi Marittime sowie den in Frankreich angrenzenden Parc national du Mercantour. Die jahrzehntelange gemeinsame Arbeit litt unter umfassenden rechtlichen und verwaltungstechnischen Hindernissen. Erst der EVTZ hat es ermöglicht, den geplanten Raum von „Natur und Kultur ohne Grenzen“ zu realisieren. Besonderheit dieses EVTZ sind seine Mitglieder: statt klassischer territorialer Körperschaften öffentlichen Rechts (Gemeinden, Provinzen, Regionen oder der Staat selbst) haben ihn Naturparke gegründet, die beiderseits der Grenze als sonstige Körperschaft des öffentlichen Rechts definiert wurden. http://it.marittimemercantour.eu/ news/20
3) Bildung und Forschung
Der EVTZ Eurorregión Pirineos Mediterráneo / L’Eurorégion Pyrénées- Méditerranée entstand 2009 an der katalanisch-französischen Grenze. Die politische Zusammenarbeit im Rahmen der 2004 gegründeten Euroregion zwischen Katalonien, Balearische Inseln, Languedoc-Roussillon und Midi- Pyrénées sollte einen juristischen Rahmen erhalten und vor allem bessere Finanzierungskanäle eröffnen. Das bedeutendste Projekt ist der „Eurocampus“, der erste dieser Art in Europa. Eine halbe Million Studierende und 45.000 Forscher sind so überregional verbunden und tauschen sich eng miteinander und mit der lokalen Wirtschaft und Industrie aus. http://www.eurocampusweb.eu/ es/eurocampus/presentacion
4) Friedensstiftung
Der EVTZ „Europaregion Tirol- Südtirol-Trentino” fußt auf der gemeinsamen Geschichte seiner drei Mitglieder, den Autonomen Provinzen von Bozen und Trient in Italien und dem österreichischen Bundesland Tirol. Wie auch zahlreiche andere EVTZ in Regionen mit ethnischen Minderheiten möchte man erreichen, dass über die projektbezogene Zusammenarbeit in wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Bereichen die Bürger näher zusammenrücken. Das bessere Kennenlernen untereinander führt zu größerem Verständnis füreinander und so zu weniger Vorurteilen dem Mitbürger gegenüber. Zusätzlich steigt neuerdings auch die Rolle des EVTZ als Gegengewicht zu den zentralistischen Tendenzen im italienischen Staat. http://www.europaregion.info/ de/evtz-europaregion.asp
5) Mobilität
Der EVTZ „Eurodistrict SaarMoselle“ umfasst zwischen dem Saarland in Deutschland und der französischen Region Moselle einen Raum gemeinsamer Kulturund Industriegeschichte, dessen Bewohner durch den fränkischmosellanischen Dialekt miteinander verbunden sind. Der EVTZ möchte pragmatisch den alltäglichen Problemen aufgrund der Grenzlage begegnen und die Herausforderungen des Strukturwandels besser meistern. Besonderes Anliegen der Einwohner ist der öffentliche Personennahverkehr für Pendler. Vorbildcharakter hat die grenzüberschreitende Buslinie, die Saarbrücken mit Saint-Avoid verbindet. Fahrpläne und Route sind zusammen mit den Verkehrsbehörden, größeren Firmen und Schulzentren ausgearbeitet worden, um möglichst großen Nutzen für alle Bevölkerungsgruppen zu garantieren. http://www.saarmoselle.org/ page286-wer-sind-wir-.html#top
6) Ein Schlauchadapter als Sinnbild für das Scheitern
Die dringend notwendige Errichtung einer deutsch-französischen Feuerwache hat den Städten Kehl und Straßburg die Grenzen der rechtlichen Möglichkeiten vor Augen geführt: Einen EVTZ konnten die Städte nicht gründen, da laut französischem Gesetz die Ausübung hoheitlicher Aufgaben des Staates nicht übertragbar sei. Ebenso wenig konnten sie eine gemeinsame juristische Person gründen, da das deutsche Feuerwehrgesetz bestimmt, dass die Aufgaben nur einer deutschen Gemeinde übertragen werden können, nicht aber einem grenzüberschreitenden Verband. Bis zu Reformen der Gesetze beiderseits der Grenzen löschen die Feuerwehren weiterhin mit ihrem speziellen Schlauchadapter, der das deutsche Bajonettsystem mit den französischen Schlauchstücken verbindet. Pragmatisch, praktisch und wirklich bürgernah.
Mehr zum Thema
Im Sommer 2014 ist das EURAC-Book, Nr. 63, Functional and More? New Potential for the EGTC, von Alice Engl und Carolin Zwilling, EURAC-Institut für Föderalismus und Regionalismusforschung, erschienen. Bestellt werden kann es unter: [email protected].
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