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Wie eine unorthodoxe steirische Forscherin dazu kommt, islamisches Frauenrecht zu studieren und dabei mit Vorurteilen aufräumt. Und was sie mit Oktopussen teilt.

Es ist nicht ganz leicht, Kerstin Wonisch zu erwischen. Das liegt nicht nur an ihrem ersten PhD, an dem sie gerade am Institut für Minderheitenrecht (Eurac Research) schreibt. Wie akribisch sie forscht, zeigen allein die 800 Seiten Interviews, die sie dafür transkribiert hat. Von Hand. Das reicht aber noch nicht. Die Juristin ist außerdem Religionswissenschaftlerin und beschäftigt sich mit islamischem Feminismus. Der funktioniert ziemlich anders als der westliche, schon allein wegen der Vielfalt der islamischen Strömungen. Problematisch wird es, wenn sich Politik und Religion gegenseitig instrumentalisieren. Etwa wenn Staatsführer oder Terrorgruppen den Koran absichtlich fehlinterpretieren, um ihre Agenda voranzutreiben. Kerstin nennt das “unheilige Allianzen”. Überhaupt: Viele Interpretationen von Koran und Sunna stammen traditionell von Männern und werden so ausgelegt, dass die Frau Untertan ist.

Islamophobie und Rechtsradikalismus wurzeln oft in einem Mangel an Kontakt mit Ausländern und dem Islam. Und aus den daraus resultierenden Berührungsängsten.

Zum Thema Frauen und Islam ist Kerstin über ihre Liebe zum Reisen gekommen. Ihr Jura-Studium in Graz unterbricht sie mit Anfang zwanzig, um in einem Reisebüro anzuheuern. Als der Chef sie bittet, eine der ersten Libyen-Reisen überhaupt zu begleiten, ist ihre Familie nicht begeistert. Kerstin fährt trotzdem. Bei Übernachtungen in Igluzelten, Jeep-Touren durch die Sahara und Städtetrips nach Tripolis und Bengasi verliebt sie sich nicht nur in die Landschaft, sondern auch in die Kultur des Landes. Bei einer dieser Fahrten klappt die Verständigung nicht: Der beduinische Jeepfahrer spricht kein Englisch, Kerstin kein Arabisch. Was also tun? Kerstin kehrt nach Österreich zurück, belegt Arabisch an der Uni und steigt wieder ins Studium ein. “Um es zu beenden und mich dann meiner zweiten Leidenschaft zu widmen”, sagt sie. Die heißt Religionswissenschaft, also legt Kerstin im Anschluss gleich einen weiteren Masterabschluss drauf. Einfach so.

In dieser Zeit bereist sie den Libanon, lebt dort bei einem palästinensischen Journalisten, besucht Flüchtlingscamps und baut nebenbei noch das Hilfsprojekt “HELP” auf, eine E-Learning-Plattform für palästinensische Kinder und Jugendliche. Zwischendurch fliegt eine Autobombe in die Luft, während sie im Taxi sitzt. “Köpfe runter!”, ruft der Fahrer. Dann war auch schon alles wieder vorbei. Von ihren Reisen und Besuchen wie der Christian-Islamic Summer University 2010 bringt Kerstin mehr mit als nur flüchtige Bekanntschaften und Reiseberichte. Mit vielen Teilnehmern bleibt sie dauerhaft in Kontakt und oft sogar befreundet. Diese zugängliche Art hat es ihr leicht gemacht, am Institut für Minderheitenrecht Fuß zu fassen und Leute miteinander zu vernetzen. Als ich einen ihrer Kollegen darauf anspreche, lacht er und sagt: “That’s very Kerstin”.

Jahre später fährt sie nach Ramallah ins Works and Relief-Camp der UN. Dort bemalt sie im Stadtzentrum Kreisverkehre und tanzt mit Senioren den palästinensischen Nationaltanz Dabke. Ihre Leidenschaft für das Thema Frauen im Islam findet sie 2015 in Granada, beim Besuch einer Summer School über Critical Muslim Thinking. Während einer Vorlesung über islamischen Feminismus wird ihr klar, dass der mit unserer “westlichen” Vorstellung von Feminismus wenig gemeinsam hat. Stattdessen geht es darum, den Koran neu zu interpretieren, was schon wegen der vielen Wortbedeutungen schwierig ist. Dass das heutzutage frauengerecht gehen muss, davon ist Kerstin überzeugt. Damit hat sie ihr Thema gefunden.

Nach dem Abschluss wird Mastervater Joseph Marko zum Doktorvater. Der internationale Verfassungsrichter leitet das Eurac Research-Institut für Minderheitenrecht. Über ihren “einflussreichsten Mentor”, wie sie sagt, kommt Kerstin Ende 2016 nach Bozen, um an Markos Institut ihren PhD zu machen. Ihren ersten. Denn Kerstin ist noch für einen weiteren PhD in Religionswissenschaften eingeschrieben. Sie sucht noch nach einem Thema, aber es wird auf jeden Fall um Frauen gehen. Falls es die Zeit zulässt, wird sie noch einen weiteren Master in Gender Studies draufpacken. Die Leidenschaft dafür leuchtet in ihren Augen, und ihre Worte sprudeln nur so heraus.

Neuerdings kriegen von dieser Leidenschaft auch Studenten etwas ab: Seit dem Sommersemester unterrichtet sie islamisches Recht an der Uni Graz, und Rechtssoziologie an der Uni Innsbruck. Statt Frontalunterricht gibt es Brainstormings, in denen sie einen Begriff wie “Koran” an die Tafel kritzelt und sich erstmal anhört, was sich die Polizisten, Soziologen und Politikwissenschaftler darunter vorstellen. Dann sezieren sie den Begriff gemeinsam und räumen mit Vorurteilen auf. Bei dieser Art von Aufklärungsarbeit nimmt sie den Menschen aber auch Illusionen. Etwa jene, dass Menschenrechte ein absolutes, perfektes System seien. “Sind sie eben nicht”, sagt Kerstin. Kann sie sich also eine klassische Karriere als Uniprofessorin vorstellen? Sie schüttelt den Kopf. Unterrichten, forschen, studieren, dreimal ja. Aber eine Professorenlaufbahn nicht. Ihr Kollege verrät mir, dass Kerstins Art der oft klobigen akademischen Welt guttäte, aber ob es umgekehrt genauso ist, da ist er sich nicht sicher.

Very Kerstin sind auch schnelle und klare Worte. Das hat sie als Marktfrau in Graz gelernt, auf dem Hof der Familie ihres Freundes. Dort verkauft sie an Wochenenden Biogemüse vom Hof ihres Freundes und auch mal eine selbstgebackene Tonne Kekse. Ihr Talent für gute Geschichten bringt ihr 2018 den Sieg beim ersten Eurac-Science Slam ein. Auch da geht’s ums Kochen: Um die Pluralität im Islam zu beschreiben, kocht Kerstin auf der Forscherbühne Pasta mit Soße und wirft dabei verschiedenste Tomatensorten in den Topf, für jede Islamströmung eine. “Wem gefällt schon, einfach mit allen anderen in einen Topf geworfen zu werden?” Ihr Ziel: Die Balance finden zwischen den Reibungen innerhalb der Strömungen, den Rechten und der Lokalbevölkerung, damit alle gut leben. Damit räumt sie den Preis ab.

Das Preisgeld kommt wie gerufen: 2018 bricht Kerstin zu einer mehrwöchigen Studienreise in den Iran auf. Sie ist überwältigt von der Schönheit der Paläste, der perfekten Infrastruktur und dem hohen Bildungsstandard. Allein der Großraum Teheran besitzt 50 Universitäten und Forschungszentren. Kerstin reist per Zug und Taxi durch das Land. Dabei wird sie ständig überwacht. Seit sie eine iranische SIMKarte in ihr Smartphone eingesetzt hat, laufen keine Google-Apps mehr. Beim Abendessen mit einer iranischen Gelehrten bemerkt sie zwei Männer am Nebentisch, die ihre Telefone unauffällig in ihre Richtung schieben. Die Frauen wechseln zweimal den Tisch. Die Männer folgen ihnen. Schließlich brechen sie ab und fahren per Taxi nach Hause. Wieder in Bozen, verwendet Kerstin das gesammelte Material nicht nur für ihre Doktorarbeit. Sie hält auch Foto-Vorträge, wie im Spätsommer in der Girlaner Bibliothek. Dass dabei der Blitz einschlägt und zwischenzeitlich der Strom ausfällt, hält sie nicht auf.

“Gerade auf dem Land sind solche Vorträge wichtig”, verrät sie, “denn Islamophobie und Rechtsradikalismus wurzeln oft in einem Mangel an Kontakt mit Ausländern und dem Islam. Und aus den daraus resultierenden Berührungsängsten”. Vielleicht auch deshalb hält die Forscherin auch nach ihrem PhD-Abschluss an Eurac Research als ihr Mutterschiff fest und hangelt sich dabei dennoch von Projekt zu Projekt und von Land zu Land. Hundertprozentig festnageln kann man die smarte Steirerin mit ihren tausend Initiativen ohnehin nicht.

Wie ihre Freunde die bunte Forscherin beschreiben, wenn sie ihnen von all ihren Arbeiten, Abenteuern und Abwechslungen erzählt? “Als Oktopus. Kennst Du den Oktopus, der sich mit seinen Tentakeln aus einem Schraubglas befreit? Das bin ich”, lacht Kerstin. Very Kerstin.

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