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Eine Sammlung privater Korrespondenz soll die Südtiroler Geschichte des 20. Jahrhunderts „von unten“ erzählen – und den Sprachgruppen den Blick für Gemeinsamkeiten öffnen.

Ende der fünfziger Jahre eröffnet ein gebürtiger Wipptaler in Dinslaken, am Niederrhein, eine Pizzeria: „Da Pino“. Es ist sein dritter Versuch, in der Stadt Fuß zu fassen. Wie die meisten italienischen Gastarbeiter hat er zuerst in der Zeche angeheuert, dann im Stahlwerk, doch für beides ist er nicht gemacht – sein Leben waren die Weiden und Almen. In der Heimat sah er aber keine Zukunft für sich. Er war schon einmal weggegangen, hatte für das Reich optiert, und als er zurückkam, passte er nicht mehr her. Da lebt er lieber davon, in Deutschland den Italiener zu geben, „Pino“: Eine kleine Existenz, von der großen Geschichte geschüttelt und gebeutelt.

„Was das an Identitätswechseln bedeutet haben muss, das ist enorm!“ Der Historiker Georg Grote hat die Geschichte des Optanten/Rückoptanten/Emigranten ausgegraben und erzählt sie mit einer Begeisterungsfähigkeit, der 20 Jahre Universitätskarriere offenbar nichts anhaben konnten. Er stammt selbst aus Dinslaken, doch das ist hier nebensächlich: Auf „Pino“ stieß er in Südtirol. Seit Jahren spürt er hier Lebenswegen nach, sammelt Briefe, Postkarten, Fotos. Anhand dieser „Südtiroler Korrespondenzen“ will er die Geschichte der Region im 20 Jahrhundert – für ihn „eine der interessantesten in Europa“ – von unten erzählen, aus Sicht der Menschen: „Wie haben normale Leute das Jahrhundert erlebt? Wie haben Krieg und Widerstand, Politik oder Rechtsnormen sich auf ihr Leben ausgewirkt? Diese persönlichen Geschichten helfen uns, das heutige Südtirol besser zu verstehen, egal zu welcher Sprachgruppe man gehört.“

Der Perspektivenwechsel sorgt für Überraschungen, soviel kann Grote jetzt schon sagen, wo er noch mitten in der Arbeit steckt: „Der Mythos der Kriegsbegeisterung im Ersten Weltkrieg zum Beispiel: Nicht in einem einzigen Brief, in keiner Feldpostkarte konnte ich eine Spur davon finden. Der Krieg wird einfach hingenommen wie ein Naturereignis – ein Sturm, den man überstehen muss.“

Grote war lange Professor in Dublin und ist eng mit der angelsächsischen Wissenschaftswelt verbunden, in der Briefforschung sich längst etabliert hat. In Südtirol ist er mit seinem Projekt Pionier. Er beginnt, 2012, mit einem Aushang in allen Bibliotheken des Landes, auf dem er um Briefe bittet. Er hat gleich Erfolg – vielleicht weil man ihm, dem Außenseiter, größere Unparteilichkeit zutraut, ist seine Vermutung. Wahre Schätze werden ihm anvertraut. Eine Dame aus Haslach übergibt ihm die gesamte Korrespondenz zwischen ihrem Südtiroler Vater und der deutschen Mutter, 600 Briefe aus den Jahren von 1945 bis 1948, als die beiden noch unverheiratet waren und durch unüberwindbare Grenzen getrennt; sie selbst hat die Briefe nie gelesen, aus Angst, sie könnten ihr zu nahe gehen. Mit einer anderen Dame trinkt Grote Kaffee, während zwischen ihnen ein noch ungeöffneter Brief von 1943 liegt, und wartet ab, ob die Neugier siegt – was sie schließlich tut. Er kann den kompletten Briefwechsel zwischen fünf Waisenkindern lesen, die in verschiedenen Familien aufwuchsen und sich über Für und Wider der Option austauschen, „da wechselt jeder mindestens dreimal die Meinung.“

Von Dinslaken nach Dublin und nach Bozen: der Historiker Georg Grote

Die Briefe führen den Historiker in Weingüter im Unterland, wo es „für jedes Jahrhundert einen ganzen Raum mit Familienerinnerungen gibt“ und in kleine Bozner Wohnungen, in denen Schränke von alten Papieren überquellen, und er staunt immer wieder, was in einer Region ziemlich sesshafter Menschen, die von Kriegszerstörung verschont blieb, „alles noch da ist.“ Eine Fundgrube. (Er staunt auch über andere Dinge: Wehrmachtspistolen, Orden des Dritten Reichs, Ahnenpässe – „hätte ich alles mitnehmen können“. Er lehnt dankend ab.)

Auch die Dokumente fotografiert er nur und digitalisiert sie, er will kein Archiv anlegen. Außer der Besitzer befürchtet, dass sie nach seinem Tod im Müll landen, dann nimmt er sie mit – ein paar Kisten lagern auf Schloss Prösels, wo die Dokumentationsstelle ihren Sitz hat und Grote ein Jahr lang Kustos war, bevor er sich dem Institut für Minderheitenforschung von Eurac Research anschloss.
Bei Eurac Research arbeitet er eng mit Sprachwissenschaftlern zusammen, denn auch für sie sind die Dokumente von außerordentlichem Interesse. „Man kann zum Beispiel nachvollziehen, wie die Sprache sich verändert, immer häufiger italienische Begriffe auftauchen.“ Vor der Analyse allerdings haben die Wissenschaftler sich oft durch einen Dschungel aus Kurrentschrift, Sütterlin, dialektalen Einschlägen und abenteuerlicher Orthographie zu kämpfen. Für Passagen, die dunkel bleiben, denkt man daran, über Crowdsourcing die Hilfe kundiger Laien einzuholen.

Doch die deutschen Dokumente zu entziffern ist ein winziges Problem, verglichen mit dem großen, dass man bisher fast nur deutsche Dokumente hat. Die Resonanz von italienischer Seite war „Null – oder fast Null“, wie Grote sagt, und man sieht ihm förmlich an, wie sehr er das bedauert. „Man weiß da so wenig. Was schrieb ein Eisenbahner in Brixen nach Sardinien? Da gibt es doch sicher Briefe, und die müssen irgendwo sein!“

Aber wie an sie herankommen? Darüber denkt Grote viel nach, obwohl er derzeit mit der deutschen Seite mehr als genug zu tun hat: 13000 Dokumente sind es bislang, und die Liste der Adressen, wo Korrespondenz auf ihn wartet, wird ständig länger. Für drei Bücher hat er schon einen Vertrag.
Doch so spannend sie sind – sich auf die deutschen Quellen zu beschränken, hieße den Anspruch aufgeben, der eine der zentralen Motivationen für das Projekt war: Brücken zu bauen zwischen Sprachgruppen, die „pointiert formuliert: durch die gemeinsame Geschichte getrennt sind“, wie Grote sagt. Er hat sich in seiner Arbeit ausgiebig mit diesen „Parallelgesellschaften“ befasst, die nebeneinanderher leben, friedlich, aber unbeteiligt. In seinen Augen liegt darin „Südtirols größte Schwäche“: leicht zu verschmerzen, solange die Zeiten gut sind; unter Druck aber kann aus der Trennlinie schnell eine Kluft werden, wie der Brexit in Nordirland vor Augen führt – „da brechen wieder die alten Fronten auf. Gerade auch für den Wirtschaftsstandort Südtirol liegt in der gesellschaftlichen Trennung eine Gefahr.“

Gemeinsamkeiten in der Vergangenheit zu entdecken, kann Basis für eine bessere Zukunft sein, ist er überzeugt. „In hundert Jahren ist nicht alles unterschiedlich gewesen, da ist auch Gemeinsames gewachsen, und man hat gemeinsam traumatische Erlebnisse durchgemacht.“ Ihm ist in Erinnerung geblieben, was ein Journalist erzählte, der deutsche und italienische Briefe aus den Bombenjahren gesehen hatte: Die lasen sich wie Übersetzungen – auf beiden Seiten die gleichen Ängste, die gleichen Sorgen.

Erschienen in der Südtiroler Wirtschaftszeitung am 30.11.2018.

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