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31 Teilnehmer aus 21 Ländern haben Mitte Februar an der Winter School 2015 zum Thema „Föderalismus und demokratische Partizipation“ teilgenommen. Vier von ihnen hat Academia zum Gespräch gebeten. Es ging unter anderem um die russische Auffassung von Bürgerbeteiligung, den Einfluss der Welthandelsorganisation auf unser alltägliches Leben, und das geplante und nie durchgeführte Referendum für Kataloniens Unabhängigkeit.

1) Jean-Sébastien Blais 
(Yukon Territorium, Kanada)

Sie versuchen Bürger aktiv in die Zukunftsplanung des kanadischen Nordwestens einzubeziehen. Warum ist das Yukon Territorium ein idealer Ort, neue Wege zu gehen?
Blais: Grundsätzlich sollte an jeder gesellschaftlichen Entwicklung die Öffentlichkeit beteiligt sein. Im Yukon, mit seinen gerade einmal 37.000 Einwohnern, fällt es leichter, eine breite Öffentlichkeit für eine innovative Politikgestaltung zu gewinnen.

Warum ist die Zusammenarbeit so wichtig?
Blais: Bürger sind wichtige Partner. Für mich ist das Modell der Bürgerversammlung von British Columbia zur Ausarbeitung eines alternativen Wahlmodells beispielhaft für eine geglückte Bürgerbeteiligung.

Wie schafft man Bürgerbeteiligung?
Blais: Zunächst einmal baut sie auf gegenseitigem Vertrauen. Grundvoraussetzungen hierfür sind: eine übergreifende Planung, laufende Rücksprache mit den Bürgern und die Verpflichtung, in jeder Phase des Projekts partizipativ zu handeln, also in der Planung, Umsetzung und Evaluation. Bürgerbeteiligung ist ein kontinuierlicher Dialog vom allerersten Moment an.

War die Winter School aufschlussreich?
Blais: Auf jeden Fall. Besonders spannend fand ich den Austausch mit Kollegen aus der ganzen Welt über das Auswahlverfahren bei der Zusammenstellung partizipativer Bürgergremien. Werden Bürger beispielsweise nach dem Zufallsprinzip in allgemeinen öffentlichen Konsultationen ausgewählt, kann ich gewährleisten, dass im Gremium ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung vertreten ist, der obendrein noch unabhängig handelt.

 

2) Anna Steinwender 
(Russland)

In Ihrem Doktorat vergleichen Sie wie Kompetenzen in Umweltfragen auf föderaler- und Gebietskörperschaftsebene in Russland und Österreich gehandhabt werden.Wie unterscheidet sich Russland von Europa?
Steinwender: In der Winter School habe ich festgestellt, dass die Auffassung von Bürgerbeteiligung eine recht unterschiedliche ist. Die russische Verfassung sieht sie zwar als Instrument vor, Bürger können sich aber nicht wirklich aktiv einbringen, sondern nur passiv reagieren. Ein Beispiel: Die Regierung hat eine Schnellstraße zwischen Moskau und dem Flughafen geplant. Sie sollte durch einen Wald führen. Allerdings war die Straße so breit angelegt, dass sie die lokale Bevölkerung dagegen auflehnte. Der Wald sei ihr Naturerbe. Am Ende wurde das Projekt abgeändert, die Straße schmaler. Die Bürger hatten ihren Willen durchgesetzt, aber eben nur aus der Defensive heraus. Bürgerbeteiligung von Anfang an, um gewisse Probleme erst gar nicht aufkommen zu lassen, gibt es in Russland so gut wie nicht.

Warum ist dem so?
Steinwender: In unserer Gesellschaft ist das Prinzip der partizipativen Demokratie noch nicht angekommen. Wir werden noch immer von Vertretern aus dem Sowjetsystems regiert. Dennoch bin ich zuversichtlich, dass auch Russland lernen kann, vorausplanend zu handeln und Diskussion schon im Vorfeld zuzulassen.

Angesichts der derzeitigen verfahrenen politischen Lage ist kaum anzunehmen, dass Russland von Europa lernen will?
Steinwender: Der Konflikt in den russischeuropäisch Beziehungen ist da, und nun müssen wir lernen konstruktiv damit umzugehen. Der Grund für den Konflikt ist das jeweilige Unverständnis der anderen, fremden Kultur gegenüber. Eine Veranstaltung wie die Winter School könnte helfen, neue Brücken zu schlagen, indem beispielsweise Experten aus Russland eingeladen werden und umgekehrt, Experten aus Europa nach Russland reisen. Ohne ständigem Kontakt und Austausch werden wir uns fremd. Ich bin überzeugt, dass dies ein Grund ist, warum wir uns zurzeit nicht verstehen. Ich bin ins Ausland studieren gegangen, weil ich Vielfalt begreifen möchte. Es ist wichtig, dass wir akzeptieren, alle anders und vor dem Recht doch alle gleich zu sein.

 

3) Irem Kirac
(Türkei)

In Ihrer wissenschaftlichen Arbeit hinterfragen sie die demokratische Legitimität von internationalen Organisationen wie die Welthandelsorganisation WTO. Warum interessieren Sie sich für übernationale Behörden?
Kirac: Die wenigsten von uns sind sich bewusst, wie sehr internationale Vorschriften unseren Alltag beeinflussen. Dabei bestimmen sie, was wir in den Regalen unserer Supermärkte und Einkaufszentren finden. Internationale Organisationen bestimmen wie wir unsere natürlichen Ressourcen nutzen, und deshalb auch wie es um unsere Umwelt steht. Meist haben übernationale Entscheidungen grenzüberschreitende Auswirkungen, betreffen also mehrere Staaten.

Sollte es nicht Aufgabe der von uns gewählten Politiker sein, Probleme dieser Größenordnung anzugehen?
Kirac: Es ist eine Frage des Eigentums. Die WTO ist eine von Mitgliedern gesteuerte Organisation. Vertreter der Mitgliedsstaaten sitzen in unterschiedlichen Komitees. Für den Bürger ist es fast unmöglich, mit diesen Vertretern in Kontakt zu kommen. Sie sitzen weit weg. Ich bin jedoch überzeugt, dass es über Zivilgesellschaftsorganisationen möglich sein sollte, unsere Stimmen in internationalen Organisationen laut zu machen. Das würde auch ihre Legitimität steigern. Die Bürger wären gewillter, das zu akzeptieren, was entschieden wird, weil sie das Gefühl hätten, die Entscheidungen seien nicht über ihre Köpfe hinweg getroffen worden.

Trauen Sie den Bürgern zu, dass sie übernationale Entscheidungen in ihrer Gesamtheit zu interpretieren in der Lage sind?
Kirac: Zivilgesellschaftsorganisationen setzen sich aus Experten zusammen. Diese können sehr wohl komplexe Informationen und Entscheidungen von übernationalen Behörden verstehen und in einfachen Worten dem Mann von der Straße erklären. Zivilgesellschaftsorganisationen sind nicht nur dazu da, unsere Meinungen wiederzugeben, sondern auch um Entscheidungen und Diskussionen zu erläutern. Verständnis gibt es nur dort, wo es Aufklärung gibt. Letztere ist Aufgabe der Experten.

Was nehmen Sie von der Winter School mit nach Hause?
Kirac: Wir kommen alle von unterschiedlichen Hintergründen und haben unterschiedliche Auffassung davon, was Demokratie ist. Und auch das ist Teil der Demokratie, dass es so viele unterschiedliche Definitionen dafür gibt. Das ist der eigentliche Reichtum.

 

4) Marc Sanjaume-Calvet
(Katalonien, Spanien)

Was hat Sie dazu veranlasst, an der Winter School teilzunehmen?
Sanjaume-Calvet: Die Möglichkeit, mich mit Kollegen aus der ganzen Welt auszutauschen. Besonders spannend und lehrreich für mein Arbeitsfeld fand ich die Beiträge zur Südtirol-Autonomie. Es fasziniert mich, wie die italienische, ladinische und deutsche Sprachgruppen ein Arrangement innerhalb der italienischen Verfassung gefunden haben.

Welches ist Ihr wissenschaftlicher Hintergrund?
Sanjaume-Calvet: Ich forsche in zwei Richtungen. Zum einen untersuche ich den kanadischen Föderalismus und wie er mit nationaler, einwanderungsbezogener und religiöser Vielfalt umgeht, zum anderen vergleiche ich die Legitimität des kanadischen Föderalismus mit spanischen Regionalpolitiken.

Ein heißes Thema…
Sanjaume-Calvet: Allerdings, Katalonien erlebt gerade einen historischen Moment. 30 Jahre Regionalismus haben den Weg hin zu separatistischen Bestrebungen geebnet, nachdem das Verfassungsgericht 2010 die Reform des katalanischen Autonomiestatuts in weiten Teilen abgelehnt hatte. Vergangenen September hat das dasselbe Gericht das für den 9. November 2014 geplante Unabhängigkeitsreferendum - dem die Mehrheit der katalanischen Parteien sowie das katalanische Parlament zugestimmt hatten - abgelehnt. Außerdem wurde der katalanische Präsident angeklagt. Die Vorwürfe lauten Ungehorsam, Rechtsbeugung, Unterschlagung öffentlicher Gelder und Amtsmissbrauch.

Vor diesem Hintergrund, wie kann der Blick auf den kanadischen Föderalismus der Situation in Spanien hilfreich sein?
Sanjaume-Calvet: Kanada ist Vorbild für Katalonien, wenn es um Themen geht wie öffentliche Ordnung, föderale Lösungsansätze, Referenden zur Selbstbestimmung. Klar, ein zweiter Blick auf Kanada zeigt, dass es auch hier Probleme gibt. Dennoch übt das Modell Kanada noch immer eine ungemeine Anziehungskraft aus. Grund hierfür ist die Vielfalt, die hier vorherrscht: First Nations – wie die Ureinwohner genannt werden, Einwanderer aus der ganzen Welt, Frankokanadier, Anglokanadier, unterschiedliche Religionen – aber auch die vielen wissenschaftlichen Studien zum Thema Vielfalt. Kanada lehrt uns, dass wir nicht die Augen vor der Vielfalt einer Nation verschließen können.

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