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Mehr als 800 kleine Wasserkraftwerke gibt es in Südtirol. Ihr Anteil an der gesamten Energieproduktion aus Wasserkraft ist etwa drei Prozent – aber wie verändern sie die Ökologie der Gewässer? Am Saldurbach im Matschertal finden Forscher von Eurac Research es heraus.

Eine wertvolle Zusatzqualifikation der Biologin Roberta Bottarin ist souveränes Autofahren in schwierigstem Gelände. „Achtung auf die Köpfe!“, warnt sie ihre Passagiere, die es auf dem ausgewaschenen Forstweg neben dem Saldurbach durchschüttelt wie Puppen. „Aber keine Sorge, wo es wirklich schlimm wird, fahren wir heute gar nicht hinauf.“ Sie parkt an einer kleinen Brücke, unter der milchig grau der Bach ins Tal rauscht. Der Saldurbach im Matschertal wird hauptsächlich vom Gletscher der Weißkugel gespeist, und jetzt, im August, führt er besonders viel trübes Schmelzwasser. „Im Winter ist er meist ganz klar.“

Bottarin hat ausgiebige Studien an Etsch und Passer betrieben, doch den kleinen Saldurbach kennt sie mittlerweile so gut wie kein anderes Gewässer. Seit 2009 entnimmt sie ihm regelmäßig Proben. Dies ist Teil der ökologischen Langzeitforschung, die Eurac Research im Matschertal betreibt: Hier, in einem der trockensten Täler des Alpenraums, untersuchen die Wissenschaftler die Auswirkungen des Klimawandels. Den Saldurbach betreffend aber tauchte vor zwei Jahren noch eine neue Forschungsfrage auf: Wie beeinflusst ein kleines Wasserkraftwerk sein Ökosystem? 2015 wurde an dem 22 Kilometer langen, steilen Gebirgsbach nämlich ein Laufkraftwerk gebaut, wie es in Südtirol viele hunderte gibt – nirgendwo sonst jedoch gibt es so detaillierte Daten aus dem „Vorher“, um das „Nachher“ damit zu vergleichen. Und so beschlossen die Wissenschaftler, die Errichtung des Kraftwerks – ein Eingriff, der ihnen anfangs „im Herzen weh tat“, wie Bottarin es ausdrückt – wenigstens für maximalen Erkenntnisgewinn zu nutzen. Der junge Forscher Alberto Scotti wurde Bottarins Mitarbeiter bei dem Projekt.

Beide steigen jetzt in hüfthohen Gummistiefeln in den Bach hinunter. An insgesamt sechs Messstationen vor und hinter der Ableitung des Kraftwerks entnehmen sie regelmäßig einmal im Monat Proben, um herauszufinden, wie sich zum Beispiel Veränderungen der Strömungsgeschwindigkeit, der Wassermenge oder der Sedimentablagerung auf die Ökologie des Baches auswirken. Bottarin hält ein Netz in die Strömung, das wie ein Trichter in einen Behälter mündet, Scotti bewegt vor der Öffnung des Netzes mit beiden Händen die Bachsteine. Zwischen den Steinen und im Sediment lebt nämlich das, was die Forscher untersuchen wollen: „Makroinvertebraten“, kleine wirbellose Tiere wie Insektenlarven, Würmer oder Krustentiere, die hervorragend Auskunft geben über den ökologischen Zustand eines Gewässers.

Am Ufer werden die Tierchen für einen ersten Augenschein in eine flache Plastikwanne umgeschüttet, dann wandern sie, in Alkohol konserviert, zur genauen Bestimmung ins Labor, wo sie unter Alberto Scottis Mikroskop eine Schönheit und Vielfalt offenbaren, die man mit bloßem Auge nicht vermutet hätte. Die exakte Identifizierung kann aufwendig sein – manche Arten ähneln sich stark und Scotti muss die feingliedrigen, bizarren Wesen hin und wieder sogar zerlegen, um das eine unterscheidende Merkmal zu finden. Er hat die Veränderungen im Saldurbach zum Thema seiner Doktorarbeit gemacht. Über 22. 000 Kleinstlebewesen hat er 2016 katalogisiert: „Eine Heidenarbeit.“ Und doch für die eigentliche Analyse erst der Ausgangspunkt.

Dass Makroinvertebraten sich so gut eignen, die Qualität von Gewässern bzw. ihren Wandel zu messen, liegt vor allem an zwei Eigenschaften: Die meisten dieser Lebewesen reagieren rasch auf Veränderungen der Umgebung, und ihre Lebenszyklen sind lang genug, um Rückschlüsse auf Entwicklungen zu erlauben. Eine chemische Wasseranalyse kommt einem Schnappschuss gleich, der nur den Moment abbildet; die Gemeinschaft der kleinen Flussbewohner dagegen spiegelt die Wirkung aller Umweltfaktoren über einen längeren Zeitraum – statt eines Fotos sehen die Forscher sozusagen einen Film, wie Scotti erklärt. „Wer verschwindet? Wer bleibt? Wer kommt? Entsteht ein Ungleichgewicht – oder ein neues Gleichgewicht mit anderen Akteuren? Das ist ein sehr komplexes Zusammenspiel.“

Im Saldurbach haben die Wissenschaftler schon einige interessante Beobachtungen gemacht: Direkt unterhalb der Ableitung ist zum Beispiel eine Algenart aufgetaucht, die dort früher nicht vorkam, und mit ihr ist die Zahl bestimmter Zweiflügler-Larven explosionsartig angestiegen. Aber welche Bedeutung solche Veränderungen haben, können die Wissenschaftler erst sagen, wenn ihre Studie abgeschlossen ist. Ende September werden sie noch einmal für Beprobungen ins Matschertal fahren, danach erwarten Scotti wieder viele Stunden am Mikroskop: Die gesamten Proben von 2017 sind noch auszuwerten. Die anschließende Analyse – der detaillierte Vergleich des Zustands vor und nach dem Kraftwerk – wird dann zeigen, ob die bisher weit verbreitete Einschätzung „kleines Kraftwerk, kleine Auswirkung“ (Scotti) revidiert werden muss.

Doch ganz unabhängig davon wäre angebracht, bei kleinen Kraftwerken über das Verhältnis von menschlichem Eingriff und allgemeinem Nutzen nachzudenken, findet Roberta Bottarin. Sicher, Wasserkraft sei generell saubere Energie, erklärt sie, als sie die langen Stiefel wieder ausgezogen hat und die Proben im Kofferraum ordnet. „Aber mehr als 800 kleine Wasserkraftwerke für etwa drei Prozent der Gesamtproduktion an Energie aus Wasserkraft“ – ihre Stimme wird so eindringlich, dass sie fast beschwörend klingt: „Und dafür riskieren wir, das Gleichgewicht dieser sensiblen Ökosysteme in Gefahr zu bringen!“ Mit dem Arm beschreibt sie einen Bogen, der die Berghänge in ihrem Rücken, Wald, Wiesen und den Bach einschließt. „In meinen Augen ist das nur in Fällen gerechtfertigt, wo keine andere Stromversorgung möglich ist.“ Wie viele Experten weist sie darauf hin, dass die drei Prozent auch herauszuholen wären, indem man die großen, oft noch aus 50er Jahren stammenden Kraftwerke, effizienter machte.

Die Überlegungen dabei sind nicht nur ökologischer Natur: Bei Bächen wie dem Saldurbach stellt sich auch die Frage, wie lange sie rentabel betrieben werden können. Denn der Gletscher der Weißkugel, ohnehin nicht groß, schmilzt wegen des Klimawandels in beeindruckendem Tempo: seit 2006 von 2,8 Quadratkilometer auf 2,2 Quadratkilometer. Wie schnell der Prozess weitergeht, ist nicht genau vorauszusagen. Mit Sicherheit aber ist er unaufhaltsam. Das Eis wird immer weniger werden – und damit auch das Wasser, das auf die Schaufeln der Turbine fließt.

erschienen in der SWZ am 22.09.2017

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